Johanna ist Einzelkind und daher mit vielen Vorurteilen konfrontiert. EIn Grund, sich dem Thema mal intensiver zu widmen.
Als männliches Einzelkind hat man es laut nordamerikanischen Studien besonders schwer: Sie werden zumeist von ihren Vätern als Einzelkind in der traditionellen patriarchalen Geschlechtsrolle erzogen und damit ihrer Selbstverwirklichungsmöglichkeiten beraubt. Dies erfolge vor allem seitens des männlichen Elternteils. Wenn die Mutter dann in der Beziehung interveniert, ergebe sich häufig eine Konfliktsituation, dadurch dass sich Mütter liberaler zeigen würden als ihr Lebenspartner – die Erziehung erfolgt auf gegensätzliche Weise. Männer würden sich bei der Geburt eines Sohnes in ihrer Identität und Persönlichkeit bestätigt fühlen. Die aufkommende vom Einzelkind empfunden Konfliktsituation würde von den männlichen Einzelkindern im Grundschulalter zunehmend weniger wahrgenommen werden, da sie sich mehr am Vater mit seinen Wünschen und Vorgaben orientieren würden. Es entsteht beidseitig eine Übereinstimmung des Geschlechts, über die sich beide als Geschlechtsgenossen in ihrem Verhalten anpassen: Der Vater will ein gutes, männliches Vorbild sein und der Sohn möchte ihm in seinen Ansprüchen genügen. Bei weiblichen Kindern, die als Einzelkinder aufwachsen, sieht sich der Vater weniger in der Erzieherrolle. Soweit die Studienlage…
Es ist dennoch schade, wenn scheinbar offensichtliche Schlussfolgerungen mit fehlenden Erfahrungen gezogen werden. Warum sollte ein Einzelkind weniger sozialisiert sein als Kinder aus Haushalten mit Geschwistern? Die verbreitete Annahme ist, dass Einzelkinder öfters alleine sind und das schnell einsam machen könne. In meinem Leben bedeutet das Aufwachsen als Einzelkind viel Zeit mit meinen Eltern und Zeit mit Freunden, wenn auch weniger mit letzteren. Grundlegend für die Bildung meiner Persönlichkeit waren sicherlich meine Erziehung und Kontakte zu Gleichaltrigen (Peergroups) in Kindergarten, Grundschule und in der weiterführenden Schule, auch wenn ich schon früh Verantwortung übernehmen musste und durchaus das Alleinsein und mit-mir-selbst-auskommen gelernt habe. Hier kam längst eine gleichwertige Sozialisierung zustande. Gerne Kontakt suche ich seit meinem Jugendalter zu tendenziell Älteren. Wahrscheinlich auch, weil meine Eltern für mich als Einzelkind immer meine ersten Bezugspersonen auf Augenhöhe waren und ich mit ihrem Alter eine gewisse Vertrautheit, Freundschaft und ein Verstandenwerden und mir selbst ein verstehen können anmaße. Bei Treffen in der Gruppe brauche ich zumeist viel Zeit zur Eingewöhnung, blühe aber schnell auf, wenn ich mich wohl fühle und Freude an den Kontakten und der Resonanz im Außen habe.
Eine Studie aus China (Southwest University in Chongqing) fand sogar heraus, dass Einzelkinder tendenziell kreativer seien als Geschwisterkinder, da sie häufiger ihre Freizeit selbst gestalten müssen oder lernen müssen, sich allein zu bespaßen. Aber auch ihre Hirnstruktur lässt auf gute Sprachfähigkeiten schließen. Zudem würden sie weniger graue Zellen im frontalen Kortex als Geschwisterkinder aufweisen. Das ist der Bereich im Gehirn, der für die Regulierung von Emotionen zuständig ist. Laut Ann Layborn (Uni Glasgow) würden sie häufiger krank und übergewichtig sein, durch den vielen Austausch mit ihren Eltern aber sprachgewandter.
Was ich oft ungefragt hören musste ist, dass der erste Eindruck von mir von Arroganz geprägt gewesen sei. Warum weiß ich bis heute nicht. Oft wirkt man als stiller Zuschauer im Klassenzimmer scheinbar als würde man sich besser als alle anderen fühlen – überlegener? Verstanden habe ich diese charakterisierende Folgerung nie und verletzen tut sie auch. Als Einzelkind mit alleinerziehendem Elternteil kommt außerdem hinzu, dass jene Kinder zumeist eine elterliche Funktion und ihre Aufgabe übernehmen müssen (Zuhörer sein, Organisation und erhöhte Unterstützung im Alltag).
Was können wir als Gesellschaft aus diesen Ergebnissen mitnehmen? Meine Beobachtungen und Studien zeigen Tendenzen, nach denen sich die Entwicklung von Einzelkindern vollziehen KANN. Sie zeigen wohl eher Regel- als Sonderfälle und umfassen jeweils nur eine kleine Gruppe von Probanden (ca. 300-500), die mit einer Vergleichsgruppe in bestimmten Bereichen gemessen wird. Einflussfaktoren wie die Situation der Eltern (Ehe, Partnerschaft und Trennung) und ihr Vorkommen in unterschiedlichen Altersklassen der Kinder sollten ebenso berücksichtigt werden, da sie sowohl für Einzel- als auch Geschwisterkinder eine große Veränderung, einen Einschnitt, bedeuten. Auch hier zeigen Studien, dass Einzelkinder tendenziell mehr unter einer Trennung der Eltern leiden, vielleicht weil sie ihr Leid oder ihre Gedanken dann schwer Jemandem mitteilen können. Aber auch hier entscheidet die Persönlichkeit.
Ich finde, wir sollten den Blick immer auf das Individuum richten. Im Kontakt mit Einzelkindern kann man diese Rahmeninformationen aber für eine automatische erste Einschätzung im Hinterkopf behalten – sollte dann aber nicht überrascht sein, wenn die Realität auch anders aussehen kann.
Geschlecht und Erziehung sind zwei zu einander gehörende Attribute über die wir in unserer ersten Einschätzung einer Person reflektieren sollten.